Der Autohof Ost ist eine von vielen Neonfassaden auf der Route von Berlin nach München. Er befindet sich im Zentrum des Gemeindegebiets Himmelkron, direkt an der A 9 und wird an Silvester ab 23.50 Uhr von aufsteigenden Raketen umringt. Während andernorts gefeiert wird, herrscht hier das trostlose Flair der Transitzone, die Menschen aufnimmt ohne sie zu verbinden.
Zur Durchreise errichtet und nie ganz verlassen, sammeln Orte wie dieser Geschichten des Reisens, Ankommens oder Festhängens, die alle auf ihre Weise Fragen nach Freiheit oder zumindest Befreiung beinhalten. Die Glocken der Himmelkroner Autobahnkirche St. Christophorus dringen durch das Böllerkonzert und verkünden allen, die sie hören, den Eintritt ins neue Jahr. Stephan, der gerade mit seiner Freundin telefoniert, schließt deshalb das Fenster seines „Whiteliners“, um in Ruhe quatschen zu können. Wenn er schon nicht da ist. Eigentlich ist er da. Nämlich hier, aber das ist für ihn wesentlich leichter zu verstehen als für sie oder seine Eltern. Durch das Feiertagsfahrverbot hängt er bis zum Abend des 1.1. am Autohof fest und sieht darin einfach einen Teil seines Traumberufs. „Auf Achse“ mit Manfred Krug habe ihn verführt. Mit dem Truck durch Afrika, die Wüste, überall hin. Die Serie zeigte dem damaligen Punk, der Ende der 70er in Wuppertal mit den anderen „am Brunnen“ den Tag versoff, was er werden wollte. Heute laufen The Exploited, The Ramones oder die Sex Pistols neben Motörhead und ACDC im Führerhaus kreuz und quer durch Europa und bis nach Marokko.
Gearbeitet hat er immer. Es war der Preis dafür, dass ihn sein Vater in Ruhe ließ und er machen konnte, was er wollte. Die erste Stereoanlage hat er sich durch Schleppen und Abwiegen von Kartoffeln und Streusalz erarbeitet, Führerschein und Auto ebenso. Verdiente Unabhängigkeit. Stephans Freundin unterstellte ihm zu Beginn ihrer Beziehung, stets auf der Flucht zu sein. „Aber ich bin nur unterwegs. In Bewegung.“ Wenn er bei ihr ist, kommt er kurzzeitig an und seine chronische Spannung legt sich. Nach zwei Tagen geht es weiter. Zeit für sich haben, zum Musikhören, zum Nachdenken, Leben, Land und Leute an sich vorbeiziehen zu lassen. Ein bisschen NO FUTURE steckt noch im Punk von damals. Nicht negativ, einfach als Lebensgefühl des Moments, der schön oder hässlich sein kann.
Seine achtjährige Tochter hat das Schlagzeug spielen für sich entdeckt, der Sohn ist aus dem Knast raus und hat eine Ausbildung angefangen. „Das freut mich, aber ich bin zu oberflächlich, um sowas als Höhepunkt betrachten zu können … Wer ist schon glücklich? Ich bin sehr zufrieden, und das ist nicht nur viel, das ist auch viel realer.“ Glück als Vorstellung von Perfektion sei etwas, woran Leute seiner Meinung nach verzweifeln, weil immer etwas fehlt. Er dagegen hat, was er will. „Ich steh alleine auf einem Parkplatz und bin nicht einsam. Alle sind im Herzen dabei, von den Kindern über die Freundin und sogar die beknackte Exfrau oder meine Kumpels.“ Er hat seinen Traumjob, den er auch für die Hälfte des Geldes machen würde. „Wenn ich irgendwann morgens aufstehe und denke, heute mach ich krank, hör ich auf. Aber immer am gleichen Ort sein, geht nicht.“
Dass es auch besondere Tage wie dieser sind, die er nicht im Kreis der Familie oder seiner Freunde verbringt, kratzt ihn nicht. Der Eventhype um Silvester betrifft ihn nicht. „Drauf geschissen“, was an Tagen wie diesen besonders den Anderen auffällt. Denjenigen, die ihr Programm haben und sich einen speziellen Ort ausgesucht haben, um ins neue Jahr zu rutschen. Daniel, Saskia und Manni haben vor allem Hunger, als sie gegen 19.30 Uhr vor der Essenausgabe ihren Fleischkäse mit Kartoffel-Rucola-Salat und Zwiebelsauce auf ihre Tabletts packen. Man soll sie möglichst nicht nach ihren Silvesterplänen fragen. Daniel hat eine eigene Werkstatt, Saskia ist „seine Büchse“, Manni sein Kumpel und sonst haben sie an Silvester immer ordentlich einen losgemacht. Feiern in der Werkstatt, Sprengungen von Bremsflüssigkeitsdosen, Feuer machen, Unfug halt.
Dieses Jahr ist alles anders, und das drückt gewaltig auf die Stimmung des Dreiergespanns. Die Heizung in der Werkstatt ist kaputt, und deshalb liegt die Feier auf Eis. Als klar war, dass die übliche „Location“ nicht verfügbar ist, haben sie sich bei ihren Nachbarn eingeladen. Jetzt bringen alle etwas zu trinken mit und ja, dann ist es halt so, wie es wird. Die Begeisterung hält sich in Grenzen, aber eine Saufgrundlage macht zumindest zeitweise zufrieden. Entspannter Missmut und voller Magen sind gute Wegbegleiter, als es um kurz nach 20 Uhr Richtung „Party, oder so“ weitergeht. Sie hängen das ganze Jahr zu dritt aufeinander. An jedem Tag im Jahr ist das kein Problem, heute macht es sie fertig.
Wer an Silvester nichts Außergewöhnliches erlebt, ist selber schuld. Ein verborgenes Skript der Spaßgesellschaft. Silvester ist zu einem großen Pool an möglichen Ritualen geworden, in dem von nicht identifizierbaren Bleifiguren über badeinselartige All-Inklusive-Events bis zur eigenen Kotze alles treiben darf, was wir mit Jahreswechselspaß assoziieren. Jeder kann sich rausfischen, was ihm am liebsten ist. Dabei hat man nicht die Wahl, man hat zu wählen. Der Rutsch ins neue Jahr übt auf viele Leute Druck aus oder sorgt zumindest dafür, dass sie sich selbst Druck machen. Eigene Lust wird allzu oft von kollektivem Verlangen absorbiert. Auf einmal will man auch irgendwas und ist enttäuscht, wenn es nicht so wird, wie es sich die Anderen vorgestellt haben.
Gegen 20.00 Uhr sind ihre Plätze leer, die A 9 versinkt im Nebel und...
Diese und 18 weitere Geschichten über das Suchen und Finden erscheinen am 01.06.18 im SALON Literatur Verlag München
HC, gebunden, durchgehend vierfarbig bebildert ca. 202 Seiten
Preis: 39,- €
Subskriptionspreis bis 31.06.2018: 25,- €
ISBN 978-3-947404-06-3
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